Sagen und Legende

AW: Sagen und Legende

Das Silberglöckchen

Ein Schäferjunge zu Patzig, eine halbe Meile von Bergen, wo es in den Hügeln auch viele Unterirdische hat, fand eines Morgens ein silbernes Glöckchen auf der grünen Heide zwischen den Hünengräbern und steckte es zu sich. Es war aber das Glöckchen von einer Mütze eines kleinen Braunen, der es da im Tanze verloren und nicht sogleich bemerkt hatte, daß es an dem Mützchen nicht mehr klingelte. Er war nun ohne das Glöckchen heruntergekommen und war sehr traurig über diesen Verlust. Denn das Schlimmste, was den Unterirdischen begegnen kann, ist, wenn sie die Mütze verlieren, dann die Schuhe. Aber auch das Glöckchen an der Mütze und das Spänglein am Gürtel ist nichts Geringes. Wer das Glöckchen verloren hat, der kann nicht schlafen, bis er es wiedergewinnt, und das ist doch etwas recht Betrübtes. Der kleine Unterirdische in dieser großen Not spähete und spürte umher; aber wie sollte er erfahren, wer das Glöcklein hatte? Denn nur wenige Tage im Jahr dürfen sie an das Tageslicht hinaus, und dann durften sie auch nicht in ihrer wahren Gestalt erscheinen. Er hatte sich schon oft verwandelt in allerlei Gestalten, in Vögel und Tiere, auch in Menschen, und hatte von seinem Glöckchen gesungen und geklungen und gestöhnt und gebrüllt und geklagt und gesprochen; aber keine kleinste Kunde oder nur Spur von einer Kunde war ihm bis jetzt zugekommen. Denn das war das Schlimmste, daß der Schäferjunge gerade den Tag, nachdem er das Glöckchen gefunden, von Patzig weggezogen war und jetzt zu Unrow bei Gingst die Schafe hütete. Da begab es sich erst nach manchem Tag durch ein Ungefähr, daß der arme kleine Unterirdische wieder zu seinem Glöckchen und zu seiner Ruhe kommen sollte.

Er war nämlich auf den Einfall gekommen, ob auch ein Rabe oder Dohle oder Krähe oder Uglaster das Glöckchen gefunden und etwa bei seiner diebischen Natur, die sich in das Blanke vergafft, in sein Nest getragen habe. Und er hatte sich in einen angenehmen, kleinen bunten Vogel verwandelt und alle Nester auf der ganzen Insel durchflogen und den Vögeln allerlei vorgesungen, ob sie ihm verraten möchten, daß sie den Fund getan hätten, und er so wieder zu seinem Schlaf käme. Aber die Vögel hatten sich nichts merken lassen. Als er nun des Abends flog über das Wasser von Ralow her über das Unrower Feld hin, weidete der Schäferjunge, welcher Fritz Schlagenteuffel hieß, dort eben seine Schafe. Mehrere der Schafe trugen Glocken um den Hals und klingelten, wenn der Junge sie durch seinen Hund in den Trab brachte. Das Vögelein, das über sie hinflog, dachte an sein Glöcklein und sang in seinem traurigen Mut:
Glöckelein, Glöckelein.
Böckelein, Böckelein,
Schäflein auch du,
Trägst du mein Klingeli,
Bist du das reichste Vieh,
Trägst meine Ruh.
Der Junge horchte nach oben auf diesen seltsamen Gesang, der aus den Lüften klang, und sah den bunten Vogel, der ihm noch viel seltsamer vorkam. Er sprach bei sich: "Potztausend, wer den Vogel hätte! Der singt ja, wie unsereiner kaum sprechen kann. Was mag er mit dem wunderlichen Gesange meinen? Am Ende ist es ein bunter Hexenmeister. Meine Böcke haben nur tonbackene Glocken, und er nennt sie reiches Vieh, aber ich habe ein silbernes Glöckchen, und von mir singt er nichts!" Und mit den Worten fing er an, in der Tasche zu fummeln, holte sein Glöckchen heraus und ließ es klingen. Der Vogel in der Luft sah sogleich, was es war, und freute sich über die Maßen; er verschwand aber in der Sekunde, flog hinter den nächsten Busch, setze sich, zog sein buntes Federkleid aus und verwandelte sich in ein altes Weib, das mit kümmerlichen Kleidern angetan war. Die alte Frau, mit einem ganzen Sack voll Seufzer und Ächzer versehen, stümperte sich quer über das Feld zu dem Schäferbuben hin, der noch mit seinem Glöcklein klingelte und sich wunderte, wo der schöne Vogel geblieben war, räusperte sich und tat einige Huster aus hohler Brust und bot ihm dann einen freundlichen guten Abend und fragte nach der Straße zu der Stadt Bergen. Dann tat sie, als ob sie das Glöcklein jetzt erst erblickte, und rief: "Herre je, welch ein niedliches, kleines Glöckchen! Hab' ich doch in meinem Leben nichts Feineres gesehen! Höre, mein Söhnchen, willst du die Glocke verkaufen? Und was soll sie kosten? Ich habe ein kleines Enkelchen, für den wäre sie mir eben ein bequemes Spielgerät." - "Nein, die Glocke wird nicht verkauft!" antwortete der Schäferknabe kurz abgebissen; "das ist eine Glocke, so eine Glocke gibt's in der Welt nicht mehr: wenn ich nur damit anklingele, so laufen meine Schafe von selbst hin, wohin ich sie haben will; und welchen lieblichen Ton hat sie! Hört mal, Mutter", (und er klingelte) "ist eine Langeweile in der Welt, die vor dieser Glocke aushalten kann? Dann kann ich mir die längste Zeit wegklingeln, daß sie in einem Hui fort ist." Das alte Weib dachte: "Wollen sehen, ob er Blankes aushalten kann?" und hielt ihm Silber hin, wohl drei Taler; er sprach: "Ich verkaufe aber die Glocke nicht." Sie hielt ihm fünf Dukaten hin; er sprach: "Das Glöckchen bleibt mein." Sie hielt ihm die Hand voll Dukaten hin; er sprach zum drittenmal: "Gold ist Quark und gibt keinen Klang." Da wandte die Alte sich und lenkte das Gespräch anderswohin und lockte ihn mit geheimen Künsten und Segenssprechungen, wodurch sein Vieh Gedeihen bekommen könnte, und erzählte ihm allerlei Wunder davon. Da ward er lüstern und horchte auf. Das Ende vom Liede war, daß sie ihm sagte: "Höre, mein Kind, gib mir die Glocke; siehe, hier ist ein weißer Stock" (und sie holte ein weißes Stäbchen hervor, worauf Adam und Eva sehr künstlich geschnitten waren, wie sie die paradiesischen Herden weideten, und wie die feistesten Böcke und Lämmer vor ihnen hintanzten; auch der Schäferknabe David, wie er ausholt mit der Schleuder gegen den Riesen Goliath), "diesen Stock will ich dir geben für das Glöckchen, und solange du das Vieh mit diesem Stäbchen treibst, wird es Gedeihen haben, und du wirst ein reicher Schäfer werden; deine Hämmel werden immer vier Wochen früher fett werden als die Hämmel aller andern Schäfer, und jedes deiner Schafe wird zwei Pfund Wolle mehr tragen, ohne daß man ihnen den Segen ansehen kann." Die alte Frau reichte ihm den Stock mit einer so geheimnisvollen Gebärde und lächelte so leidig und zauberisch dazu, daß der Junge gleich in ihrer Gewalt war. Er griff gierig nach dem Stock und gab ihr die Hand und sagte: "Topp, schlag ein! Die Glocke ist dein für den Stock." Und sie schlug ein und nahm die Glocke und fuhr wie ein leichter Wind über das Feld und die Heide hin. Und er sah sie verschwinden, und sie deuchte ihm wie ein Nebel hinzufließen und sanft fortzulaufen, und alle seine Haare richteten sich zu Berge.

Der Unterirdische, der ihm die Glocke in der Verkleidung einer alten Frau abgeschwatzt, hatte ihn nicht betrogen. Denn die Unterirdischen dürfen nicht lügen, sondern das Wort, das sie von sich geben oder geloben, müssen sie halten; denn wenn sie lügen, werden sie stracks in die garstigsten Tiere verwandelt, in Kröten, Schlangen, Mistkäfer, Wölfe und Lüchse und Affen, und müssen wohl Jahrtausende in Abscheu und Schmach herumkriechen und herumstreichen, ehe sie erlöst werden. Darum haben sie ein Grauen davor. Fritz Schlagenteuffel gab genau acht und versuchte seinen neuen Schäferstab, und er fand bald, daß das alte Weib ihm die Wahrheit gesagt hatte, denn seine Herde und all sein Werk und seiner Hände Arbeit geriet ihm wohl und hatte ein wunderbares Glück, so daß alle Schafherren und Oberschäfermeister diesen Jungen begehrten. Er blieb aber nicht lange Junge, sondern schaffte sich, ehe er noch achtzehn Jahre alt war, seine eigene Schäferei und ward in wenigen Jahren der reichste Schäfer auf ganz Rügen, so daß er sich endlich ein Rittergut hat kaufen können: und das ist Grabitz gewesen hier bei Rambin, was jetzt den Herren vom Sunde gehört. Da hat mein Vater ihn noch gekannt, wie aus dem Schäferjungen ein Edelmann geworden war, und hat er sich auch da als ein rechter, kluger und frommer Mann aufgeführt, der bei allen Leuten ein gutes Lob hatte, und der hat seine Söhne wie Junker erziehen lassen und seine Töchter wie Fräulein, und es leben noch davon und dünken sich jetzt vornehme Leute. Und wenn man solche Geschichten hört, möchte man wünschen, daß man auch mal so etwas erlebte und ein silbernes Glöcklein fände, das die Unterirdischen verloren haben.

(Ernst Moritz Arndt)
 
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Das Kirchbrünnlein und die Hexe von Hammerberg

Michel, der Waldbauer von Prex, war krank. Täglich nahmen seine Kräfte ab und die Ärzte meinten, dass er diese Erde wohl bald verlassen werde. Michel aber verlor seinen Mut nicht.

Nachdem er eines Abends inbrünstig gebetet hatte, erschien ihm im Traum ein Engel und sprach: „Gott hat Dein Gebet erhört, Dein Leiden soll bald ein Ende haben. Geh und hole Wasser vom Wiesbrünnlein, trinke davon drei Mal am Tag und bade dich auch in dem Wasser. Dann wirst du bald gesund werden.“

Michel tat wie ihm geheißen, schickte seine Kinder zum Wasser holen, trank brav und badete sich auch damit. Und bald war der Waldbauer wieder so gesund wie ein Fisch im Wasser.

Die wunderbare Heilung sprach sich schnell herum und nun kamen täglich viele kranke und bedürftige Menschen zum Wiesbrünnlein, um sich einen erfrischenden und gesund machenden Trank zu holen. Die Quelle wurde zu einem richtigen Wallfahrtsort.

Im nahen Regnitzlosau lebte zu dieser Zeit ein frommer Pfarrer, der auch oft zum Brünnlein ging. Schon bald meinte er, dass über der Heilquelle ein Kirchlein gebaut werden solle, damit der Segen des Brunnens möglichst vielen Wallfahrern zugute käme.

Gesagt, getan. Alle Bewohner der Umgebung wollten helfen, schleppten Balken und Steine herbei und nach kurzer Zeit war das Bauwerk fertig. Am St. Martinstage sollte es geweiht werden.

Nun aber wohnte auf dem Hammerberg gegenüber der Quelle im halb verfallenen Turm des alten Raubschlosses derer von Hartenstein ein uraltes Weiblein. Man nannte sie überall „die schwarze Hanne“ und niemand wußte, wo sie eigentlich hergekommen war.

Einerseits fürchteten sich die Leute vor ihrer Furcht einflößenden Erscheinung. Da sie aber die Heilkräfte der Kräuter und Pflanzen kannte, kamen doch viele Kranke zu ihr und ließen sich Tees und Salben für ihre Genesung zubereiten. Das brachte ihr natürlich ein hübsches Stückchen Geld ein.

Seit dem nun jedoch die Heilkraft des Wiesbrünnleins bekannt geworden war, verlor sie ihre Kundschaft. Die Leute kamen nicht länger, um sie um Rat zu fragen, und sie erhielt auch kein Geld mehr. Das erzürnte sie sehr und sie schwor, Rache an allen zu nehmen, die beim Bau des Kirchleins mithalfen.

Freilich, allein fühlte sie sich zu schwach um gegen das Gott gefällige Werk anzugehen. Also wollte sie sich mit dem Teufel verbünden. Sie suchte einen nach ihrem Zauberbuch günstigen Tag heraus – es war Freitag, der 13. – und rief um Mitternacht den Teufel an. Aber alle Versprechungen von Gold und Silber, von den Schätzen, die sie im Laufe der Jahre gehortet hatte, vermochten nicht, ihn herbei zu locken.

Da schließlich versprach sie, mit Leib und Seele sein zu werden, wenn er ihr bei ihren Racheplänen helfen wollte. Plötzlich, beim zwölften Schlag der alten Wanduhr, erzitterte der Turm in seinen Grundfesten. Der Teufel kniete zu ihrem Schreck vor ihr und streckte die Arme nach ihr aus. Sie fiel in Ohnmacht. Der schwarze Geselle hob sie auf, trug sie ins Bett und streichelte ihr so lange Gesicht und Hände, bis sie wieder zu Bewußtsein kam.

Der Höllenfürst fragte sie nach ihrem Begehr. Da verlangte Hanne von ihm, er solle das Wasser des Brünnleins vergiften und das Kirchlein niederreißen. Diese Bitte wollte ihr der Teufel noch in der Nacht erfüllen, wenn ihm sein Lohn zuteil werde. Alle irdischen Schätze schlug er aus und rief ihr zu, dass er nach Jahresfrist ihre Seele Heim holen wolle. Darauf küßte er sie und verschwand.

Am nächsten Morgen fanden sich die Helfer bei der Quelle ein. Wie sehr aber erschraken sie vor dem Zerstörungswerk, das sie dort vorfanden: das Kirchlein war dem Erdboden gleich gemacht und statt des Heilwassers entquoll dem Brunnen eine dunkle, stinkende Brühe.

Alle waren ratlos. Aber weil sich das Wasser langsam wieder reinigte, folgte man dem Rat des guten Pfarrers und begann mit dem Wiederaufbau des kleinen Gotteshauses. Nun wollte man aber vorsichtiger zu Werke gehen und beschloss deshalb, nachts Wache zu halten.

Zwölf schwer mit Äxten und Sensen bewaffnete Prexer fanden sich am Bauplatz ein, um die bösen Kräfte von einer erneuten Zerstörung des frommen Vorhabens abzuhalten. Es war eine herrlich Sommernacht, Stille lag über Wald und Feld, nur unterbrochen vom Zirpen der Grillen.

Da auf einmal, als die Kirchturmuhr von Regnitzlosau die Mitternacht ankündigte und eben der letzt Glockenschlag verklungen war, erglühte der Turm vom Hammerberg in schauerlichem rotem Licht. Ein gewaltiger Sturm brach los, entwurzelte die Bäume am Waldessaum und wälzte eine riesige Staubwolke durch die Luft.

Dahinter begann sich eine Feuersäule vom Hammerberg herunter zu wälzen, direkt auf die zutiefst erschrockenen Wächter zu. Starr vor Schreck erkannten sie in der Glut die unverwechselbare Gestalt des Satans. Atemlos flüchteten sie und suchten Schutz im Wald.

Erst als das junge Tageslicht über dem Horizont herauf leuchtet, wagen sie sich aus ihren Verstecken und kehren, noch immer sprachlos, zu ihren Familien zurück. Gemeinsam begaben sie sich zum Ort des Geschehens.

Aber was mussten sie dort sehen! Weit verstreut lagen die Balken und Steine, die für den Wiederaufbau des Kirchleins bestimmt waren, im Gelände verstreut. Da verließ sie der Mut und sie beschlossen, keine Kirche mehr zu bauen.

Seit dieser Nacht wurde die schwarze Hanne nicht mehr gesehen. Der Teufel hatte sie wohl geholt und sie war selbst das Opfer ihrer Boshaftigkeit geworden. Auch die Ruine der Raubritterburg ist verschwunden.

Doch das Brünnlein ist wieder erstanden und hat den Namen „Kirchbrünnlein“ erhalten. Noch heute spendet es den Bewohnern der gleichnamigen Ortschaft frisches, klares Wasser.

Quelle( Fichtelgebirge)
 
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Das Wunderkreuz

Die Donaugegend bei dem Hause zum weißen Lamm in der Roßau war einst der Schauplatz eines sonderbaren Ereignisses.
Eines heiteren Morgens wurde die an den Ufern der hochströmenden Donau des Verkehrs wegen zahlreich versammelte Volksmenge nicht wenig überrascht, als sie in der Gegend des besagten Hauses aus der Tiefe des Wassers ein riesengroßes Holzkreuz auftauchen sah, dessen Form, Färbung und Goldverzierung ganz morgenländisch war und einen griechisch-byzantinischen Ursprung verriet.
Nachdem das Kreuz eine Strecke lang stromabwärts gegen die Stadt geschwommen war, machte es auf der Oberfläche des Flusses Halt, und alle Bemühungen des Volkes, dasselbe mittels Seilen und Stangen an das Land zu ziehen, waren vergebens. Unbeweglich und fest behauptete sich das Kreuz auf seinem beweglichen Lager.
Die Kunde dieses Wunders durchlief mit Blitzesschnelle die ganze Hauptstadt und deren Umgebung, so daß am Morgen des folgenden Tages Tausende und Tausende die Donauufer bedeckten. Auch der Klerus erschien in feierlicher Prozession, wobei sich ein frommer Klosterbruder aus dem Hause der Minoriten beim Landhause befand, dem es endlich, nachdem alle Versuche, das Kreuz an das Land zu ziehen, vergebens geblieben waren, gelang, dasselbe mit seinem darnach ausgeworfenen Ordensgürtel und zwar mit leichter Mühe an das Ufer zu bringen.
Es wurde hierauf nach St. Stephan gebracht und unter Gebet und Glockengeläute öffentlich aufgestellt.
Neues Erstaunen aber bemächtigte sich der Stadt, als das Kruzifix des anderen Morgens aus diesem Dome verschwunden war und sich bald darauf die Kunde verbreitere, es habe sich an einer Wand der Minoritenkirche, und zwar über der sogenannten Buchheimischen Kapelle, wiedergefunden, wohin es von unbekannten Kräften in der Nacht gestellt worden sei.



Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 80, S. 98f
 
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Sagen zur Wilden Jagd im Mondseeland


Früher lebten die Menschen im Mondseeland meist nur in Holzhäusern und es gab noch kein
elektrisches Licht, kein Radio und auch noch keinen Fernseher. Am Abend war es oft nur ein schwacher
Lichtschein, der vom Ofen oder vom offenen Herd her in die dunkle Stube fiel. Kerzen waren sehr teuer und wurden nur angezündet, wenn es wirklich notwendig war. Wenn dann der Wintersturm um das Haus brauste und an den Fenstern rüttelte blieben auch die Erwachsenen in der warmen Stube und manchmal erzählte einer Geschichten von der wilden Jagd. Die Kinder saßen dann still dabei und hörten aufmerksam zu.
In den Rauhnächten um Weihnachten stürmte früher die wilde Jagd durch die Luft über die
Wälder und Felder des Mondseelandes. Ganz voran kam eine Meute vieräugiger Hunde und
dahinter sauste der Schwarm der wilden Reiter, von denen manche auf schwarzen Ziegenböcken
ritten. Die Menschen blieben angsterfüllt in ihren Häusern. Wer draußen angetroffen
wurde, den packte die Wilde Jagd und nahm ihn mit. Nur über diejenigen, die sich flach auf
die Erde warfen und einen Rosenkranz oder die etwas Geweihtes bei sich trugen, stürmte der wilde
Haufen hinweg.
Manchmal sauste die Wilde Jagd auch durch die Straßen von Mondsee bis vor das große
Tor des Klosters. Wenn dann der Abt ein goldenes Kreuz erhob, verschwand die lärmende
Geisterschar.
In St. Lorenz kam die Wilde Jagd aus den Schluchten der Drachenwand. Dann brauste es über den Häusern und der Wind rüttelte an den Türen und Fenstern. Die Holzknechte schlugen nach dem Fällen eines Baumes mit der Hacke drei Kreuze in jeden frischen Baum-stumpf. Wer ich dort niedersetzte, über den hatte die Wilde Jagd keine Gewalt. Die drei Kreuze mussten aber mit sechs Streichen gelingen, sonst waren sie wirkungslos.
Heute fürchtet sich niemand mehr vor der Wilden Jagd. In den Rauhnächten zu Weihnachten, zu Neujahr
und vor dem Dreikönigsfest geht man in vielen Häusern noch heute mit Weihrauch durch die Zimmer, in
den Bauernhäusern auch durch Stall und Tenne. Das soll Glück bringen und Unheil fernhalten. Manchmal
werden noch heute mit der Motorsäge drei Kreuze in die Schnittflächen der gefällten Bäume geschnitten.

Quelle:(Auszüge aus dem Buch bei Google-Books)
 
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Der Bäcker zu Dortmund

Vor vielen, vielen Jahren hat zu Dortmund ein reicher Bäcker gelebt, der hat zwar keinen Gottesdienst versäumt und ist in der Kirche immer der Andächtigste gewesen, allein dabei blieb sein Herz doch hart wie Stein. Er hatte durch Wucher und Kornaufkaufen eine große Menge Geld zusammengebracht, das er in vielen großen Säcken in seinem Keller verborgen hatte. Armen hat er aber nie mehr gegeben als höchstens ein Stückchen halbverschimmeltes Brot und seine einzige Schwester, die Witwe eines armen, aber braven Leinewebers hat er sammt ihren Kindern hungern und darben lassen und mit großen Worten, als sie ihn nach dem Tode ihres Mannes um eine Unterstützung bat, von seiner Türe gewiesen.
Da ist einmal eine schlimme Pest und nach ihr eine große Teuerung in ganz Westfalen entstanden, so dass die Armen das Korn nicht mehr bezahlen konnten und das ganze Land voller Bettelleute war. Bei dem Bäcker aber war keine Not. Er buck sein Brot immer kleiner und ließ es sich immer teurer bezahlen und seine Scheuern und Böden waren voll Getreide bis zum Hahneballen hinauf, aber er verkaufte es darum doch nicht, sondern hoffte, dass bis zum Winter die Kornpreise um das Doppelte steigen würden.
Da lag er einst um die Mittagszeit auf seinem Bett, um von der Morgenarbeit etwas auszuruhen, als langsam an die Türe geklopft wurde. Er rief herein und siehe, vor ihm in Lumpen gehüllt stand eine elende magere Frau und bat um eine Gabe. Es war seine Schwester, die er aber nicht erkannte, so hatte sie sich in den letzten Jahren verändert. Da er nun glaubte, es sei ein gewöhnliches Bettelweib, so hetzte er in Wut über diese Störung seiner Mittagsruhe seinen großen Hund auf sie, der unter dem Bett lag. Die Frau aber rief ihn nun mit flehender Stimme bei seinem 'Taufnamen und bat ihn, er möge sie, die an der Pest alle ihre Kinder verloren habe, doch nicht von sich stoßen, sondern ihr eine Ruhestätte in seinem Hause gönnen und sie vor dem Hungertode schützen. Da erwiderte der böse Bruder mürrisch: "Gut denn, ein Plätzchen in meinem Hause sollst du haben, ich weiß aber nicht, ob es nach deinem Geschmacke sein wird, und Nahrung sollst du auch haben!" Damit führte er sie auf den Hof und wies auf eine große leerstehende Hundehütte, zog ein Stück Weizenbrot aus der Tasche und reichte es ihr. Die arme Verhungerte griff gierig danach und biss hinein, aber das Brot war so hart, dass die Zähne eines großen Hundes dazu gehörten, um es zu zermalmen. Nach wenigen Augenblicken gab sie es auf und stürzte vor Schwäche zu Boden. Aber ihr harter Bruder ließ sie unbekümmert liegen und wahrscheinlich wäre sie auf dem Fleck gestorben, hätte sich nicht eine alte Magd ihrer angenommen und hätte sie durch Einflößen einiger Tropfen kräftigen Bieres wieder zu sich gebracht. Diese steckte ihr auch einige Bissen genießbaren Brotes zu und so gewann die arme Frau wieder so viel Kräfte, um zu ihrer Hütte zurückschleichen zu können. Hier sank sie auf ihr elendes Strohlager und betete zu Gott, er möge sie doch von ihren Leiden erlösen. Und Gott erhörte sie, denn sie schloss ihre Augen, um nie wieder aufzuwachen.
Am andern Tage ist aber in der Stadt Dortmund ein gefährlicher Aufruhr~ ausgebrochen, der die Reichen und Begüterten in der Stadt bedrohte. Das Volk litt große Not und begann deshalb die Häuser derer zu stürmen und zu plündern, die immer noch im Überfluss schwelgten. Auch auf des reichen Bäckers Haus stürmten die Armen los, man drohte es zu plündern und ihn selbst totzuschlagen. Der Bäcker hatte bei dem ersten Aufruhrgeschrei sogleich Türen und Fenster verrammelt, er selbst aber flüchtete sich in den festen Keller seines Hauses, wo seine Schätze lagen und der ihm einige Sicherheit gewähren konnte, da er nicht gleich zu finden war. Einen Sack kleiner Brote und einen großen Krug voll Wasser nahm er in aller Eile mit sich. Er hoffte auf diese Weise ohne Mangel zu leiden, mehrere Tage ausharren. zu können, bis die Ruhe wieder hergestellt wäre. Kaum hatte er die eiserne, mit schweren Riegeln versehene Türe hinter sich geschlossen, hörte er, wie das Volk die Türe seines Hauses sprengte, hineinströmte, sich darin zerstreute und alles zusammenschlug. Er hatte sich auf seine Geldsäcke gesetzt und wartete so von Stunde zu Stunde, bis es wieder ruhig werden wollte.
Die Angst ließ ihn den Hunger vergessen; als aber der Morgen anbrach, da verlangte die Natur ihr Recht, hungrig griff er in den Sack, worin die Brote waren, zog eins heraus und wollte hineinbeißen. Aber wehe! es war durch ein Wunder zu Stein geworden und große Blutstropfen hingen wie Schweißperlen daran. Schaudernd warf er es von sich und ergriff ein zweites Brot, allein auch dieses war verwandelt wie das erste. Er versuchte es mit einem dritten und vierten, immer dasselbe, sie waren alle zu Stein geworden. Da ließ er den Sack fallen und nahm den Wasserkrug zur Hand, er wollte wenigstens seinen Durst löschen. Entsetzlich! das Wasser war zu Blut geworden. Da fielen ihm alle seine Sünden ein, die er sein Lebtage gegen andere Menschen begangen, er fiel auf die Knie und betete und versprach, er wolle bereuen und für die kommenden Tage ein besserer Mensch werden, ein Wohltäter und Vater der Armen sein.
Als er aber nach beendigtem Gebete wieder in den Sack griff und abermals dieselben schrecklichen Wunderzeichen fand, da ergriff ihn schwere Verzweiflung, er wollte seinem Leben selbst ein Ende machen und seinen Kopf an den harten Steinwänden des Kellers zerschmettern, aber auch diese Wohltat wurde ihm nicht zu Teil. Nach dem dritten Versuch stürzte er betäubt zu Boden. Viele Stunden lag er so; endlich erwachte er wieder. So begannen abermals Hunger und Durst ihn aufs Grimmigste zu plagen, aber den Keller wagte er nicht zu verlassen, denn im Hause hörte er das Geschrei des wütenden Pöbels, welcher sein Leben wollte. Inmitten seiner Geldsäcke gab er am Abend des andern Tages elendiglich seinen Geist unter großen Qualen auf.
Als nach einigen Tagen die Ruhe wieder hergestellt war, wollte die Magd dem Bäcker die gute Nachricht bringen. Als sie aus seinem Versteck im Keller keine Antwort hörte, ließ sie die schwere Tür mit Gewalt aufbrechen. Man fand den Geizhals mit entstellten Zügen auf seinen Geldsäcken liegen. Das Brot aber war hart wie Stein und voll Blutstropfen, der Wasserkrug mit Blut gefüllt. Der Reichtum des geizigen Bäckers fiel, da er keine Erben hatte, an die Stadtkasse.

Quelle: (Europa<<<Mitteleuropa<<<Deutschland)
 
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Die weiße Waldfee

Vor gar nicht allzu langer Zeit spielten drei kleine Mädchen oberhalb von St. Oswald im Wald.
Sarah, so hieß eines der Mädchen, rief ihren Freundinnen nach: „So wartet doch! So schnell kann ich nicht laufen!“ Nur noch schneller rannten Marie und Elena, als sie die verzweifelten Rufe Sarahs hörten.
Elena lachte laut und sprang über einen verfaulenden Baumstumpf. Marie tat es ihr gleich.
Ebenso versuchte Sarah die Hürde zu überspringen, doch ihr Bein verfing sich in einem Ast und sie fiel hin. Ihre Freundinnen merkten nichts von dem Unfall und liefen froh und munter weiter.
„Hilfe!“, rief Sarah und man konnte ihre verzweifelte Stimme im Wald widerhallen hören, „So helft mir doch!“
Ihr Bein tat schrecklich weh, sie konnte nicht aufstehen.
Plötzlich stand eine wunderschöne Frau vor ihr. Sie war ganz in Weiß gekleidet und der Wind spielte mit ihren langen, blonden, fast weißen Haaren. Die Frau lächelte freundlich, bückte sich zu Sarahs Bein und fuhr sanft mit ihrer Handfläche über den schmerzenden Knöchel. Auf einmal, wie von Zauberhand weggewischt, legte sich der Schmerz. Das verängstigte Mädchen blieb aber noch am Boden sitzen und blickte zur Frau auf – sie ahnte, dass dies die sagenumwobene weiße Waldfee sein musste. Man erzählte viel von ihr, niemand hatte sie aber je wirklich zu Gesicht bekommen.
Dann war die Frau verschwunden. Sarah stand auf und rannte ins Dorf und erzählte jedem, der es hören wollte, was passiert war.
Also heilt die Waldfee nicht nur verletzte Tiere, sondern auch unschuldige Kinder können auf ihre Hilfe hoffen.

Quelle: (Erfunden von Viktoria Ebner, St. Oswald, Osttirol, Hauptschule Sillian, Österreich)
 
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Das brennende Geld

Drei Bauern kamen eine Herbstnacht oder vielmehr früh, als es mehr gegen den Morgen ging, von einer Hochzeit aus dem Kirchdorf Lancken geritten. Sie waren Nachbarn, die in einem Dorfe wohnten, und ritten des Weges miteinander nach Hause. Als sie nun aus einem Walde kamen, sahen sie an einem kleinen Busche auf dem Felde ein großes Feuer, das bald wie ein glühender Herd voll Kohlen glimmte, bald wieder in hellen Flammen aufloderte. Sie hielten still und verwunderten sich, was das sein möge, und meinten endlich, es seien wohl Hirten und Schäfer, die es gegen die Nachtkälte angezündet hätten. Da fiel ihnen aber wieder ein, dass es am Schlusse Novembers war, und dass in dieser Jahreszeit keine Hirten und Schäfer im Felde zu sein pflegen. Da sprach der jüngste von den dreien, ein frecher Gesell: "Nachbarn, hört! Da brennt unser Glück! Und seid still und lasset uns hinreiten und jeden seine Taschen mit Kohlen füllen; dann haben wir für all unser Leben genug und können den Grafen fragen, was er für sein Schloss haben will." Der älteste aber sprach: "Behüte Gott, dass ich in dieser späten Zeit aus dem Wege reiten sollte! Ich kenne den Reiter zu gut, der da ruft: Hoho! Hallo! Halt den Mittelweg!" Der zweite hatte auch keine Lust. Der jüngste aber ritt hin, und was sein Pferd auch schnob und sich wehrte und bäumte, er brachte es an das Feuer, sprang ab und füllte sich die Taschen mit Kohlen. Die andern beiden hatte die Angst ergriffen, und sie waren im sausenden Galopp davongejagt, und er ließ sie auch ausreißen und holte sie dicht vor Vilmnitz wieder ein. Sie ritten nun noch ein Stündchen miteinander und kamen schweigend in ihrem Dorfe an, und keiner konnte ein Wort sprechen. Die Pferde waren aber schneeweiß von Schaum, so hatten sie sich abgelaufen und abgeängstigt. Dem Bauer war auch ungefähr so zumute gewesen, als habe der Feind ihn schon beim Schopf erfasst gehabt. Es brach der helle, lichte Morgen an, als sie zu Hause kamen. Sie wollten nun sehen, was jener gefangen habe, denn seine Taschen hingen ihm schwer genug hinab, so schwer, als seien sie voll der gewichtigsten Dukaten. Er langte hinein, aber au weh! Er brachte nichts als tote Mäuse an den Tag. Die andern beiden Bauern lachten und sprachen: "Da hast du deine ganze Teufelsbescherung! Die war der Angst wahrhaftig nicht wert!" Vor den Mäusen aber schauderten sie zusammen, versprachen ihrem Gesellen jedoch, keinem Menschen ein Sterbenswort von dem Abenteuer zu sagen.
Man hätte denken sollen, dieser Bauer mit den toten Mäusen habe nun für immer genug gehabt; aber er hat noch weiter gegrübelt über den Haufen brennender Kohlen und bei sich gesprochen: "Hättest du nur ein paar Körnlein Salz in der Tasche gehabt und geschwind auf die Kohlen streuen können, so hätte der Schatz wohl oben bleiben müssen und nicht weggleiten können." Und er hat die nächste Nacht wieder ausreiten müssen mit großem Schauder und Grauen, aber er hat es doch nicht lassen können; denn die Begier nach Geld war mächtiger als die Furcht. Und er hat es wieder brennen sehen genau an der gestrigen Stelle; bei Tage aber war da nichts zu sehen, sondern sie war grasgrün. Und er ist hingeritten und hat das Salz hinein gestreut und seine Taschen voll Kohlen gerafft, und so ist er im sausenden Galopp nach Hause gejagt und hat sich gehütet, dass er einen Laut von sich gegeben noch jemand begegnet ist; denn dann ist es nicht richtig. Aber er hat doch nichts als Kohlen in der Tasche gehabt und ein paar Schillinge, die von den Kohlen geschwärzt waren. Da hat er sich königlich gefreut, als sei dies der Anfang des Glückes und das Handgeld, das die Geister ihm gegeben haben. Er mochte aber die paar losen Schillinge von ungefähr in der Tasche gehabt haben, als er ausritt. Und die Schillinge haben dem armen Mann, der sonst ein fleißiger, ordentlicher Bauer war, keine Rast noch Ruhe mehr gelassen; jede Nacht, die Gott werden ließ, hat er ausreiten müssen und seine besten Pferde dabei tot geritten. Man hat es aber nicht gemerkt, dass er Schätze gefunden hat, sondern seine Wirtschaft hat von Jahr zu Jahr abgenommen, und endlich ist er auf einer Nachtfahrt gar einmal verschwunden. Und man hat von ihm und von seinem Pferde nie etwas wieder gesehen; seinen Hut aber haben die Leute in dem Schmachter See gefunden. Da muss der böse Feind ihn als Irrlicht hineingelockt haben; denn er braucht solche Künste gegen die, welche sich mit ihm einlassen und ihn suchen.

Quelle:(Ernst Moritz Arndt Europa<< Mitteleuropa<< Deutschland)
 
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Die Prophezeiung des Nostradamus

Wenn die Zeit kommen wird, wo sich die Menschen dem Blitz und das Feuer des Himmels dienstbar machen werden, wo man einen Draht von Eisen um die Erde legen wird, und die Menschen viele Meilen weit durch die Lüfte miteinander reden werden, dann werden viele unter dem Volke rufen: "Wir sind die wahren Propheten, von Gott gesandt, uns sollt ihr hören!", und sie werden die Völker gegeneinander hetzen, die verschieden sind durch ihre Sprachen und Sitten, dann wird Bitterkeit und Haß herrschen, und es werden Greueltaten und Blutvergießen sein. Ein Wagen, gezogen vom Blitz und Erdenfeuer wird vom Orient zum Okzident, vom Süden zum Norden wie der Sturmwind eilen, und es wird keine Ferne mehr geben auf dem Erdenrund. Die Kräfte des Wassers und des Feuers, der Erde und der Luft werden dem Menschen dienstbar sein, der Winter wird sich oft in Sommer verwandeln, die Bäume werden reiche Früchte und die Saaten reiche Ernten tragen, trotzdem werden Tausende Menschen hungernd nach Brot rufen und unzufrieden sein. Da wird eine Stimme erschallen, wie das Rollen des Donners, und sie wird um Gerechtigkeit rufen für das Volk, aber man wird die Stimme nur mit einem Ohr hören und mit dem anderen taub sein. Die Mächtigen der Erde werden den Frieden wollen, aber unter den Völkern wird kein Friede, sondern Feindschaft herrschen: große Kriegsheere werden furchtbare Waffen tragen und doch wird man sagen, es sei Friede, ewiger Friede.
Auch jene Stimme, welche von unten nach oben ruft, wird verstummen und still sein. Da werden viele sagen: "Das Geld ist unser Gott! Denn es wird viele Gottlose geben, und der Glaube und die Liebe werden aus dem Menschenherzen weichen. Man wird viel von Raub und Mordtaten hören, und ein Bruder wird dem ändern kein Vertrauen mehr schenken. Da werden viele die Heimat verlassen und weit über das Weltmeer ziehen. Die Weiber werden sich um die Männer streiten, denn es wird viele geben ohne Mann. Auf ihrem Rücken werden sie anfangen, Höcker zu tragen und sich mit Pfauen- und anderen Vogelfedern schmücken, denn ihre Kleider werden wunderlich sein, und den Kamelen und Papageien ähneln, und dies alles werden sie tun, um den Männern zu gefallen. Von Papier wird man Gelder haben und die werden großen Wert besitzen.
Der Bauer und der Handwerksmann aber werden seufzen und wehklagen wegen der großen Lasten, welche sie auf ihren Schultern werden tragen müssen, denn es wird oft großer Mangel und viele Sorge sein.
Die papiernen Werte werden mehr gelten, als Haus und Ackerland, und viele 'werden Haus und Hof für Papier hingeben und glauben, daß es mehr im Wert sei.
Wenn dann der Markustag am Osterfest, der Antoniustag am Pfingstfest und der Johahnnestag am Fronleichnam fällt, geht ein Wehschrei durch die ganze Welt; da wird vom Sonnenaufgang her ein großes Kriegsgeschrei über die Erde erschallen, und ein Blutergießen wird dort sein, wie es die Welt noch nicht gesehen, ein Volk wird sich gegen das andere erheben und viele Geschlechter werden von der Erde vertilgt werden. Da werden sich viele in die Wälder flüchten und ihr Geld dort verbergen und dabei vor Hunger sterben, denn niemand wird ein Brot für Geld verkaufen, denn das Geld wird wertlos sein, und alle, welche viel davon besitzen, werden anstatt reich, ärmer als die Bettler sein. Der Krieg wird sich immer mehr ausbreiten. Kein Volk und kein Reich wird davon verschont bleiben. Die Erde wird ein großes Schlachtfeld sein, mit Menschenblut getränkt, und die Opfer des Krieges werden Hunderttausende zählen. Da werden viele, welche mächtig, reich und angesehen waren, in den Abgrund stürzen auf immer. Auch die Unzufriedenen, die man nur mit einem Ohr hörte, werden wieder aufstehen und tausendstimmig rufen: "Wir wollen gleiches Recht und gleiche Pflichten!", und dieses Mal wird ihr Ruf Erhörung finden und ihre Wünsche werden in Erfüllung gehen.
Da werden wieder viele falsche Propheten kommen und zum Volk sagen: "Wir sind die Männer der Wahrheit und des Rechtes, auf uns sollt ihr hören." Und alle, welche diesen Propheten Glauben schenken, werden elend und verloren sein, sie werden die Saat des bösen Feindes ausstreuen, den Sohn gegen den Vater, den Bruder gegen den Bruder hetzen und die Kämpfenden werden unter sich einen schrecklichen Vernichtungskampf führen. Städte und Ortschaften werden zerstört und zu Schutthaufen werden, denn ihre Bewohner werden vernichtet oder entflohen sein.
Da werden Zeichen sein am Himmel, unter den Sternen, der Sonne und dem Mond, die noch kein Mensch gesehen. Auch auf der Erde werden Zeichen sein, die Erde wird oft beben und erschüttert werden, die Vulkane werden viel Feuer speien und großen Schaden anrichten, und man wird hören, daß das Meer seine Ufer verlassen und das Land überschwemmen, und das feste Land zu Meer, und das Meer zu festem Land werden wird.
Viele Menschen werden an einer Pestilenz sterben, denn der Todesengel wird, reiche Ernte haltend, über die Erde ziehen: Da wird einer kommen, hoch in den Lüften auf den Flügeln des Windes, der wird den Frieden stiften, die Menschen versöhnen, und es werden alle eines Sinnes sein. Die Menschen werden dann einander wieder achten und lieben und einander küssen und rufen: "Bruder, wo hast du dich erhalten!" Dann wird es gut sein zu leben auf der Erde.

Quelle: (Stadtarchiv Wien, Sig. E 82724)
 
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DER JUNGFERNSTUHL UND DER MÖNCH AUF HELGOLAND

Da die elftausend Jungfrauen unter Anführung der heiligen Ursula aus Albion gen Köln zogen, kamen sie auf ihrer Meerfahrt auch nach dem grünen Helgoland und landeten allda, aber die Einwohner verfolgten einige an das Land Gekommene, daß sie nicht wußten, wie sich retten, da eilten sie an den Strand und sprangen auf das Wasser, darin gingen sie nicht unter, sondern es hob sich ein Fels unter ihren Füßen, auf dem sie ruhten, bis ihr Schiff herankam und sie einnahm. Dieser Fels hat davon den Namen Jungfernstuhl erhalten. Um ihn her wurden noch lange Jahre die Fußtapfen der Jungfrauen tief in den Boden eingedrückt ersehen. Aber zur Strafe verwünschten die Jungfrauen alles auf der Insel, außer die Menschen. Da verwandelte sich alles Geräte in Stein. Ein Prediger hat davon lange ein Endchen Wachslicht in Verwahrung behalten, das ganz zu Stein geworden.
Als hernachmals Helgoland dennoch christlich geworden war, hielten seine Bewohner fest am alten Glauben. Da sendete der König einen Mönch, welcher Luthers Lehre angenommen hatte, dorthin, diese Lehre dort zu predigen, aber die Einwohner stürzten ihn von einem Felsen herab in das Meer. Da wuchs ein steinern Gebilde aus der Tiefe, ganz wie ein Mönch gestaltet, und auf der Klippe ging der Geist des Bekehrers um und predigte mit einer Donnerstimme, so lange, bis sich die Leute dennoch zur neuen Lehre bekehrten, dann hatte der Geist Ruhe, aber der steinerne Mönch blieb als ein sonderbares Wahrzeichen stehen.

Quelle: Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853
 
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Die Spinne

Wenn einem morgens eine Spinne über der Leib läuft, sieht man sie als Unglücksbotin an und tötet sie oder schleudert sie weg. Nachmittags aber sieht man sie als Glücksbotin an und schont sie. Daher der Reimspruch:
Spinnerin am Morgen
bringt Kummer und Sorgen.
Spinnerin am Abend
bringt Glück und Gaben.
Der ausgerisssene Spinnenfuß zuckt so lange fort, bis er ruckweise wieder zum Tiere kommt.

Spinnenhäute soll man nicht wegfegen, weder im Stalle, noch im Vorhaus.

Wenn man in einem Haus Spinnweben sieht, sagt man:
Da ist eine Braut im Haus! Denn die Spinnweben sind Heiratsbriefe.


Ein Bauer kaufte eine Kuh, die schön fleißig war und viel Milch gab. Aber nach einiger Zeit magerte sie ab und hörte zu milchen auf. Wann der Bauer nach dem Füttern aus dem Stalle ging, schaute ihm die Kuh allemal nach und plärrte. Daraus erkannte er, daß sie von ihrem vorigen Besitzer etwas Besonderes bekommen hatte, was ihm dieser verschwiegen hatte. Erzürnt ging er zu jenem alten Bauer und würgte ihn drohend: „Wenn du mir nicht sagst, was du der Kuh Besonderes gegeben hast, dann ...!" Da sagte der Alte: „A Spinnaweckerl afs Brot houf s kriagt olle Ton!" Der Käufer gab ihr fortan die gewohnte Maulgabe und sie ward wieder leibig und milchreich.

Mit Spinnwecken (Spinnweben) kann man das Blut stillen.

Wider das Fieber kennt man ein Mittel: Man bindet nämlich die gesamten Spinnweben, die in den Kammern und auf dem Boden aufgetrieben werden können, um Mitternacht auf den Puls der Fiebernden. Es hilft!


Quelle: Sagenreise ins Pielachtal, Sagen, Erzählungen, Geschichten - aus dem reichen Sagenschatz des Pater Willibald Leeb.
 
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Der schwarze oder schwere Wagen

In Wien warnte man noch vor hundert Jahren die Kinder vor dem "schwarzen Wagen". Mit diesem aber hatte es folgende Bewandtnis. Nicht zur Stunde der Mitternacht, wo die gewöhnlichen Gespenster ihren Umgang halten, sondern um vieles später, nämlich zur Zeit, wo, nach Eintritt der Nacht- und Tagscheide, Mensch und Tier der tiefsten Ruhe genießen und ein markdurchfrostender Wind durch die einsamen Straßen streicht, rasselt es plötzlich von fernher über das Granitpflaster der Stadt, daß selbst der behaglichste Schläfer halb erwacht und aufstöhnt und horcht, was da los sein möge. Und näher und näher braust und rumort es zwischen den Häusern fort, daß die Wände schüttern und die Fenster klirren. Das ist der "schwere Wagen". Jeder, der ihn hört und wach genug ist, um sich seiner bewußt zu sein, fühlt die Begierde, sich zu überzeugen, wer denn zu so unheimlicher Stunde mit solchem Ungestüm durch die Straßen jagt; namentlich spüren die Kinder viel Lust dazu. Allein statt emporzuspringen und an das Fenster zu eilen, ehe der Wagen vorbeigerollt, hüllen sie sich lieber um so fester in ihre Decke, denn sie erinnern sich mit Schaudern dessen, was ihnen die Kindermagd längst eingeprägt hat. - "Der schwere Wagen ist ein Fuhrwerk, worauf der leibhafte Satan selber sitzt. Wage sich ja niemand an das Fenster, wenn er vorüberfährt, denn eine Maulschelle so derber Art, daß ihm zeitlebens die fünf Finger des Bösen auf der Wange eingebrannt bleiben, ist die geringste Strafe für seine Neugierde. Manchem aber erging es noch schlechter, indem ihm der Kopf entweder ganz weggerissen oder wenigstens so verdreht wurde, daß ihm das Gesicht nach rückwärts, das Genick nach vorne stand!" Man läßt daher den "schweren (oder schwarzen) Wagen" lieber unbelauscht vorüberjagen und sucht den Schreck, den sein Rasseln eingejagt hat, zu verschlafen.


Quelle: (Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz)
 
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Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern

Es war ganz grausam kalt; es schneite und es begann dunkler Abend zu werden; es war auch der letzte Abend im Jahre, Silvesterabend. In dieser Kälte und in diesem Dunkel ging auf der Straße ein kleines, armes Mädchen mit bloßem Kopf und nackten Füßen. Ja, sie hatte ja freilich Pantoffeln angehabt, als sie von zu Hause wegging, aber was konnte das helfen! Es waren sehr große Pantoffeln, ihre Mutter hatte sie zuletzt benützt, so groß waren sie, und die verlor die Kleine, als sie über die Straße eilte, weil zwei Wagen so schrecklich schnell vorbeifuhren. Der eine Pantoffel war nicht zu finden, und mit dem andern lief ein Junge davon; er sagte, daß er ihn als Wiege benützen könne, wenn er selbst Kinder bekomme.
Da ging nun das kleine Mädchen auf den kleinen, nackten Füßen, die rot und blau vor Kälte waren; in einer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer, und mit einem Bund in der Hand ging sie dahin. Keiner hatte ihr während des ganzen Tages etwas abgekauft, keiner ihr einen kleinen Schilling gegeben; hungrig und verfroren ging sie dahin und sah so verschüchtert aus, das arme kleine Wurm! Die Schneeflocken fielen in ihre langen, blonden Haare, die sich so schön um den Nacken lockten; - aber an die Pracht dachte sie freilich nicht. Aus allen Fenstern leuchteten Lichte, und dann roch es da in der Straße so herrlich nach Gänsebraten; es war ja Neujahrsabend, - ja, daran dachte sie.
Hinten in einer Ecke zwischen zwei Häusern, das eine sprang ein wenig mehr in die Straße vor als das andere, da setzte sie sich hin und kauerte sich zusammen. Die kleinen Beine hatte sie hinaufgezogen unter sich, aber sie fror noch mehr und heimgehen durfte sie nicht, sie hatte ja keine Schwefelhölzer verkauft, keinen einzigen Schilling bekommen, ihr Vater würde sie schlagen. Und kalt war es auch daheim, sie hatten nur grade das Dach über sich, und da pfiff der Wind herein, obschon Stroh und Lumpen in die größten Spalten gestopft waren. Ihre kleinen Hände waren beinahe ganz tot vor Kälte. Ach, ein kleines Schwefelholz konnte gut tun! Hätte sie nur gewagt, eines aus dem Bund zu ziehen, es an der Wand anzustreichen und die Finger daran zu wärmen! Sie zog eines heraus. "Ritsch!" wie das sprühte, wie es brannte! Es war eine warme klare Flamme wie eine kleine Kerze, als sie die Hand darum hielt; es war ein wunderbares Licht! Dem kleinen Mädchen schien es, als säße sie vor einem großen Eisenofen mit blanken Messingkugeln und Messingtrommel; das Feuer brannte so herrlich, wärmte so gut; nein, was war das! - Die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen, - da erlosch die Flamme. Der Ofen verschwand, sie saß mit einem kleinen Stumpf eines abgebrannten Schwefelholzes in der Hand.
Ein neues wurde angesteckt, es brannte, es leuchtete, und wie der Schein auf die Mauer fiel, wurde sie durchsichtig wie ein Schleier; sie sah ganz bis in die Stube hinein, wo der Tisch mit einem schimmernden weißen Tuch gedeckt stand mit seinem Porzellan, und herrlich dampfte die gebratene Gans, die mit Pflaumen und Äpfeln gefüllt war; und was noch prächtiger war, die Gans sprang von der Schüssel, wackelte über den Boden mit Gabel und Messer im Rücken, ganz hin zu dem armen Mädchen kam sie; da erlosch das Schwefelholz, und es war nur die dicke, kalte Mauer zu sehen.
Sie zündete ein neues an. Da saß sie unter dem herrlichsten Weihnachtsbaum, der war noch größer und noch mehr geputzt als der, den sie am letzten Weihnachtsabend durch die Glastüre bei dem reichen Kaufmann gesehen hatte. Tausend Lichte brannten an den grünen Zweigen, und bunte Bilder wie die, die die Ladenfenster schmückten, sahen auf sie herab. Die Kleine streckte beide Hände hoch, - da erlosch das Schwefelholz. Die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und höher, sie sah, es waren nur die klaren Sterne, einer von ihnen fiel und bildete einen langen Feuerstreifen am Himmel.
"Nun stirbt da jemand!" sagte die Kleine, denn die alte Großmutter, die die Einzige war, die gut zu ihr gewesen, aber jetzt tot war, hatte gesagt: Wenn ein Stern fällt, steigt eine Seele empor zu Gott!
Sie strich wieder ein Schwefelholz an die Mauer, es leuchtete im Umkreis, und in dem Glanz stand die alte Großmutter, so hell, so leuchtend, so mild und gesegnet.
"Großmutter!" rief die Kleine, "oh, nimm mich mit! Ich weiß, du bist fort, wenn das Schwefelholz ausgeht, fort, wie der warme Ofen, der herrliche Gänsebraten und der große, prachtvolle Weihnachtsbaum!" - Und sie strich in Eile den ganzen Rest Schwefelhölzer an, die im Bund waren, sie wollte die Großmutter recht festhalten; und die Schwefelhölzer leuchteten mit einem solchen Glanz, daß es heller war als am lichten Tag. Großmutter war früher niemals so schön gewesen, so groß; sie hob das kleine Mädchen auf ihren Arm, und sie flogen in Glanz und Freude so hoch, so hoch! Und da war keine Kälte, kein Hunger, keine Angst - sie waren bei Gott!
Aber in der Ecke beim Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit einem Lächeln um den Mund - tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres. Der Neujahrsmorgen ging auf über der kleinen Leiche, die mit Schwefelhölzern dasaß, von denen ein Bund fast abgebrannt war. Sie hat sich wärmen wollen, sagte man; niemand wußte, was sie Schönes gesehen, in welchem Glanz sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war!

Quelle: (Märchen von Hans Christian Andersen, Berlin 1910)
 
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Der Rauschgoldengel aus Nürnberg

Der Nürnberger Rauschgoldengel ist zum Ende des Jahres 1700 entstanden. Damals lebte in Nürnberg ein Handwerksmeister namens Hauser. Dem war sein einziges Kind, eine kleine Tochter, nach einer schweren Krankheit gestorben. Ohnehin schon Witwer, lebte der Mann fortan allein in seinem Haus, und der Schmerz über den Tod seines Kindes überwältigte ihn so, daß er nicht mehr in seine Werkstatt ging, seine Freunde nicht mehr aufsuchte und erst recht jeden Zunftabend mied.
Stundenlang saß er neben dem Bett, in dem das Kind gestorben war und aus dem sie es fortgetragen hatten. Er starrte auf die Kissen, strich darüber und konnte sich nicht in den göttlichen Ratschluss finden. Er entließ seinen Gesellen, denn wozu sagte er sich, soll es noch einen Sinn haben, an Schraubstock und Hobelbank zu stehen. Am Tage, wenn die Fensterläden offen standen, schmerzte ihn das Sonnenlicht, sobald aber die Dunkelheit kam, fürchtete er sich vor der Nacht, in der ihn die Traurigkeit immer von neuem überwältigte.
Darüber verging die Zeit. Eines Nachts als er schließlich nach langem Grübeln in einen leichten Schlaf gefunden hatte, ging plötzlich die Tür auf, und von einem hellen Schimmer umgeben, sah er eine Gestalt hereinkommen, ganz in ein goldenes Gewand gehüllt. Als der Mann genauer hinsah, bemerkte er daß es das Nürnberger Gewand war. Außerdem sah er daß das Wesen weder Arme noch Hände, dafür aber zwei mächtige goldene Flügel hatte. Ein Engel! Jetzt kam dieser Engel auf ihn zu, blieb an seinem Bett stehen, setzte sich dann und neigte den Kopf zu ihm herunter. Da erkannte der Mann, daß er seine verstorbene Tochter vor sich hatte. Sie lächelte und erzählte ihm, wie gut es ihr ginge und sie bat ihn, nie mehr um sie zu weinen.
Der einsame Mann versprach es, aber davon erwachte er, fuhr im Bett hoch und war allein, wie immer. Doch es kam ihm vor als ob ein goldener Glanz in der Stube zurückgeblieben war, auch die Tür stand noch offen. Da wurde ihm das Herz leicht, und er fand keinen Schlaf mehr bis der Morgen kam, und immer sah er das Gesicht des Engels vor sich.
Als der Morgen graute, ging er in seine Werkstatt und suchte ein Klötzchen Lindenholz. Das weiche Holz der Linde verarbeitete er selten, deshalb dauerte es ein Weilchen, bis er das richtige gefunden hatte. Aber noch während er suchte kehrte immer mehr Lebensmut zurück. Plötzlich sah er wieder eine Aufgabe vor sich: Er wollte versuchen, das Gesicht seines verstorbenen Kindes aus dem Lindenholz zu schneiden. Er wollte es so schnitzen, wie er es in der Nacht als Engel gesehen hatte.
Die nächsten Tage schnitze er und je deutlicher ihn aus dem Holz das Gesicht seines Kindes ansah, desto zufriedener wurde er. Doch mit dem Gesicht alleine war es nicht getan. Er beschaffte sich Rauschgold für die mächtigen Flügel, außerdem hatte der Engel einen plissierten goldenen Rock getragen, den er aus einem dünn ausgewalzten Messingblech fertigte.
In den nächsten Tagen war er so in seine Arbeit vertieft, daß er nicht hörte wie an seine Tür geklopft wurde. Es waren seine Freunde, denen es keine Ruhe mehr ließ, nachdem sie ihn tagelang nicht mehr gesehen hatten. Sie versuchten durch die Ritzen der Fensterläden zu sehen. Nur das glänzen und blitzen des Goldes war zu sehen. Dann riefen und klopften sie lauter und da hörte er sie und ließ sie eintreten.
Die Schönheit des Engels machte sie sprachlos. Er erzählte ihnen von seinem Traum, aber ihnen genügte es, daß er wieder ins Leben zurückgefunden hatte.
Um immer mit seinem verstorbenen Kind verbunden zu sein, fing der Mann an mehrere Rauschgoldengel herzustellen.
Zum kommenden Christkindlesmarkt hatte er so viele fertig gebracht, daß er einen Stand mietete und sie ausstellte. Wie immer, wenn es etwas neues gibt, drängten die Käufer und rissen sich um die Rauschgoldengel. Auch waren alle bereit, ohne zu feilschen gutes Geld für die Kunstwerke zu bezahlen.
Rauschgoldengel kann man auch heute noch auf dem Nürnberger Christkindelmarkt kaufen.
Nürnberger Christkindelmarkt
 
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